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Über das Pilgern von Marie-Louise Jung

Als die sogenannten »Pilgrims« oder »Pilgrim Fathers«, eine aus 103 Personen bestehende Gruppe, im Jahre 1620 auf einem Schiff namens MAYFLOWER von England aus den Atlantischen Ozean unter lebensbedrohenden Umständen überquerten, war ungewiss, ob sie ihr Ziel, die heutigen USA, jemals erreichen, ob sie überleben würden. In der »New World« wollten sie eine vor Verfolgung sichere, religiöse Gemeinde gründen, eine neue Stadt bauen, eine »city upon a hill«, die den Anderen sichtbares Zeichen sein sollte. Dass in manchen Nachschlagewerken der Name »Pilgrim Fathers« durch das Synonym »Founding Fathers« ersetzt wird, mag insofern nicht erstaunen. Hatten doch jene Pilgrims eine religiös motivierte Entscheidung getroffen, der zufolge sie für immer ihre Heimat verließen, auf Gewohntes und Vertrautes verzichteten bei gleichzeitiger Abkehr von einschränkenden und/oder fesselnden Maßregelungen – zugunsten einer selbst bestimmten und selbst auferlegten Reise durch und in Gefahren einer für sie unbekannten Welt. Die sowohl physische als auch psychische Kraft dieser Menschen, ihre Vision von einer besseren Zukunft setzten Energien frei, die ihnen zur Vorstellung der »Gründung« einer besseren Zukunft in einer idealen Welt im Sinne der »Utopia « verhalf. Dies ist kein Einzelfall der Menschheitsgeschichte, er sei (lediglich) stellvertretend für andere erwähnt. Auch sei hier an die Pilger bei Geoffrey Chaucer, dem als 'Vater der englischen Dichtung' bezeichneten Poeten erinnert. In seinen berühmten, vermutlich 1387 begonnenen »Canterbury Tales« schildert er die Pilgerfahrt von 30 Leuten zu dem im Titel genannten Ort. Dort nämlich befindet sich das Grab des heiligen Thomas à Becket, dem die Wallfahrer ihren Respekt zollen. Handelt es sich um einen Kunstgriff Chaucers, der den Pilgern so zur literarischen Allgegenwart verhalf oder um die vom Ort Canterbury ausgehende Spiritualität? Resultiert sie möglicherweise aus dem Geist des ermordeten und schließlich heilig gesprochenen Erzbischofs Becket? Pilgern oder Pilger – aus welcher Wurzel ging dieses Wort hervor? In der deutschen Sprache lassen sich seine Anfänge über die neuhochdeutschen und mittelhochdeutschen Versionen bis auf das althochdeutsche Wort pilirim nachweisen, dessen Ursprung entlehnt wurde aus dem kirchenlateinischen pelegrimus = Fremder/Wanderer. Gemeint war in diesem Zusammenhang zweifelsohne der jeweilig wallfahrende Fremde, der an die heiligen Stätten in Rom reiste oder pilgerte. Was ist es, das den Menschen, den Fremden also befähigt, sich auf die Wanderschaft zu begeben? Welche innere Überzeugung, welche seelische Kraft stößt den Menschen in der äußeren Welt in das Bedürfnis, sich auf die suchende Reise, auf individuelles oder kollektives Wandern zu begeben? Ist es das Bedürfnis nach Buße, um von den Verfehlungen im irdischen Leben befreit zu werden? Handelt es sich um den Bittgang des Einzelnen, der sich durch ein Höchstmaß an körperlicher Anstrengung, Bewegung und zeitweiser Entbehrung oder Verzicht von seinen Vergehen Befreiung erhofft? Befreiung aus den Zwängen, Befreiung von Schmerz, Zugang zu Unbekanntem, Heilung von Krankheiten, Anblick von Fernem, Selbstfindung, Loslösung aus der Bindung an das materiell Alltägliche, Sehnsucht auf nie zuvor geschaute Bilder? Welchen Hoffnungsanspruch stellen die Pilger an die bevorstehende Reise? Sind es die Pilgerorte selbst, die die Spannung erzeugen, man fände an ihnen die Beglückung oder Heilung, die so sehnlichst gewünscht wird? Ist diesen Orten eine geheime Energie zueigen, derer die Ankömmlinge habhaft werden möchten, um gestärkt, geläutert ins Alltägliche zurückzukehren? Welche Botschaft empfingen die Sterblichen, die zum Orakel von Delphi pilgerten, zu den Tempeln der Maya und Inka, den Pyramiden zu Ehren ägyptischer Gottheiten? Welche geistig-seelische Dimension öffnet sich dem Buß- und Bittgänger bei seiner Ankunft in Rom, Jerusalem, Mekka, Santiago de Compostela oder Lourdes? Welche Kräfte bergen in sich heilige und geheiligte Stätten, dass Pilger ihrer Anziehungskraft nicht widerstehen können? Tragen wir in uns das Bewusstsein einer gewissen Wahrheit, einer imaginären Gewissheit von Erlebenkönnen des bereits Gewesenen, jetzt noch Seienden und Zukünftigen, an dem wir an bestimmten Orten besonders teilhaben werden oder dessen Teil wir selbst werden? Welche modernen Orte sind geeignet, uns in unserem Jahrhundert ein solches Erleben zu verschaffen? In der Zeit vom 20. Februar 2004 bis 19. September 2004 pilgerten, wanderten Tausende zu der Ausstellung »Das MoMA in Berlin«, warteten auf Zutritt, sodass die Neue Nationalgalerie sieben Monate lang zu einer (klassischen) Pilgerstätte im 21. Jahrhundert avoncierte. Was suchten oder wen besuchten sie dort, die Pilger der Moderne, die Wallfahrer, die Wartenden? Es handelte sich um die Präsentation von 200 der bedeutendsten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts aus dem Museum of Modern Art, New York. Diese war eingebettet in ein Rahmenprogramm, dem die Veranstalter unter dem Titel »Berliner Festspiele« den Namen »american season 2004« gaben. Eine sieben Monate dauernde Saison also, eine besondere Jahreszeit oder Zeit des Jahres, für die die Kulturschaffenden eine Kultstätte inszeniert hatten. Ein Ort, der Nationales mit Internationalem verknüpfend, den anreisenden und wandernden Konsumenten-Pilgern zur Begegnung mit der amerikanischen Totale in Europa, Deutschland verhalf. Die Betrachtung der Kunst des 20. Jahrhunderts in ihrer Komplexität und Komprimiertheit, ermöglicht unter dem Blickwinkel der Beziehung zwischen Europa und der Neuen Welt, unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik und intellektuellen Vielschichtigkeit und deren Spannungsverhältnis. Pilgern an eine Kultur beherbergende Stätte, einen Tempel, der den Betrachter durch bloßes Eintreten in den Raum mit der innewohnenden Geistesmacht erfüllt. Ein Standort, von dem aus der Schauende eine höhere Stufe auf der Entwicklungsleiter erklimmt, eine Stufe, auf welcher der suchende Mensch sich selber im Bild des anderen sieht, erkennt. Ein Universum der Symbole, von denen der suchende Betrachter ergriffen wird, um in seinem Menschsein erhoben und erhaben zu werden. So empfindet er im Tempel der ausgestellten Meisterwerke, am Vor-Bild des vom Künstler Gesehenen und Dargestellten die Übertragung jener Impulse in seine Seele. Denn die Seele denkt in Bildern, sie lebt in Bildern. Die Seele nährt sich vom ständigen Fluss der Bilder und entfacht über diese Sinneserfahrung die Freude des Betrachtenden. Durch die Konzentration des die Kunst schauenden Pilgers, durch seine Aufmerksamkeit auf das Objekt,macht er sich durchlässig für die Kräfte des Objektes. Das Subjekt gerät in Schwingungskontakt mit dem Geschauten, dem betrachteten Objekt und damit in Verbindung mit der Welt, aus der das Objekt stammt, hervorgegangen ist. An einer so konzipierten Pilgerstätte erweist sich, dass die Wanderschaft, die Wallfahrt belohnt wird mit der Fülle dessen, was ein Jahrhundert der Kunst-Erschaffung hervorgebracht hat. Hier erlebt die Intuition, erkennt und wieder erkennt sie in Form von Gleichnisbildern das Innenlicht an Erfahrung und Wissen und wird eins mit der Vorstellung des Gesuchten. Ist es etwa die Vision von der besseren Welt?