|
Vorwort von Marie-Louise Jung
"Mein Wunsch, zum jüdischen Glauben
zu konvertieren, ist keine Augenblicksentscheidung, vielmehr resultiert
er aus vielen Stationen eines fast lebenslangen Weges bis zu dem Punkt,
an dem es mir möglich wurde, Sprache und Ausdruck für dieses
Bedürfnis zu finden."
Maria Haas, deren Erinnerungen an ihre frühe Kindheit von Gedanken
an Ausgrenzung und große Einsamkeit geprägt sind, schildert
in dem vorliegenden autobiographischen Text, wie sie sich quälte,
ihren als lebensbedrohlich empfundenen Zustand zu beenden und zu verlassen.
Sprachlosigkeit lag über ihrem Empfinden, fassungsloses Staunen über
die Diskrepanz zwischen der äußeren, realen Welt und ihrer
durch Tagträume erschaffenen und bereicherten eigenen Welt. Taubheit
und Schwerfälligkeit bemächtigten sich des Mädchens, dessen
Anderssein die Autorin in der Metapher der "Schildkröte"
zum Ausdruck bringt.
Seinen Panzer der Welt entgegenstreckend wie eine stumpfe Waffe, schafft
sich das "kleine, junge, brave, tüchtige, stille" Tier
Raum, in dessen Mitte es seine Existenz zunehmend ausbreitet und bis zur
völligen Erstarrung beherrscht. Verzweiflung über wiederholte
Enttäuschungen und die Auswegslosigkeit der Lebenssituation verhärten
den Schutzschild des Tieres und lassen ihn zunehmend fester und undurchlässiger
für äußere Veränderungen werden. Seine beglückendsten
Momente erlebt das Mädchen in der Symbiose mit Bildern, Farben, Musik
und an erster Stelle mit dem als "Freund" bezeichneten Klavier.
Diese Lektüre zwingt uns, die Orientierungsschwierigkeiten der Autorin
nachzuempfinden auf fast als unliebsam empfundene Weise. Dient die Wiederholung
des Wortes "Schildkröte" hier bewusst als Stilmittel, oder
handelt es sich um einen Mangel an Ausdrucksfähigkeit der Schreiberin?
Der sichtbar gemachte Prozess der Verkrustung und Versteinerung scheint
Macht über den Leser zu gewinnen, sodass wir uns zeitweilig von der
Lektüre befreien möchten.
Hier wird nichts literarisch idealisiert oder erhöht, sondern das
langsame Aufbrechen, der Individuationsprozess eines Menschen geschildert,
der trotz Sprachlosigkeit die Fähigkeit des Schreibens über
diese Sprachlosigkeit nutzt.
Die Besonderheit des geschilderten Ablaufes liegt in der Erschaffung eines
Rahmens, in den die Bewusstwerdung und Konkretisierung der Konversion
zum jüdischen Glauben eingebettet ist. Mit ihrem ersten Satz - "Mein
Vater ist gestorben" - erzeugt die Autorin durch Anwendung der Tempus
"Perfekt" zu Beginn der Lektüre eine Gegenwartsperspektive,
die im letzten Kapitel durch den Wortlaut - "Mein Vater war tot"
- den Spannungsbogen schließt, d.h. Endgültigkeit manifestiert.
Die so geschaffene Struktur spiegelt die implizite Aufforderung an den
Leser wider, von der ersten Zeile des Textes an die Bedeutung des Sterbens
dieses Vaters, des Juden, für dessen Tochter mit- und nachzuempfinden.
Zurückgekehrt aus Palästina, wohin er vor der Tötungsmaschinerie
der Nationalsozialisten geflohen war und so sein Leben hatte retten können,
heiratete er in Österreich eine Christin.
Seine Tochter erkennt nach seinem Tod, nachdem er "diese Zeit und
diesen Raum verlassen" hat, nachdem er "nach Hause gegangen"
ist, ihre eigene Identität. In einem kleinen, unscheinbaren Büchlein,
welches das Vermächtnis des Vaters an sie darstellt, sieht die Tochter
das wirkliche Kleinod, die Quelle, aus der ihr ICH gespeist wird. Das
ICH darf nun sein naturgegebenes Wesen anerkennen und ausbreiten. Die
im Büchlein vom Vater handschriftlich angelegte "Zitatensammlung"
verkörpert das Bindeglied zu den jüdischen Wertevorstellungen,
in die die Autorin von Kindheit an eingebettet war. Nicht materielle Güter,
sondern die Bewusstmachung der Bedeutung von Bildung, Kunst, Literatur
sowie die Anerkennung der religiösen Weisheiten und der daraus resultierenden
Verantwortung des Einzelwesens, sind das spirituelle Vermächtnis des
Verstorbenen an seine Tochter. Diese Ideale ermöglichen ihr den Zugang
zur eigenen Geschichte und machen die Konversion der Autorin plausibel.
In der Annahme des Jüdin-Seins findet sie nach dem Tod des Vaters
ihre Erfüllung, ihr Zuhause. Ihre Zeit der Versöhnung
ist als abgelaufene Zeit beendet, als Beginn der Zukunft angebrochen.
|